Gastkommentar

Covid-19 und das Horrorszenario des exponentiellen Wachstums

A health worker holds a swab stick, in Vienna
A health worker holds a swab stick, in ViennaREUTERS
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Bei der Pandemiebekämpfung ist eine langfristige Denkweise nötig. Nur so entsteht eine Strategie, die lebbar ist.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

Wiederholt erwähnen die Minister Kurz, Kogler, Anschober und Nehammer in der Pressekonferenz von letzter Woche das „exponentielle Wachstum“ der Infektionszahlen, das uns so bedroht. Sie behaupten, wenn das Wachstum wie in den letzten Wochen voranschreitet, dann gibt es 6000 Infizierte täglich im Dezember und dann nähern wir uns schrittweise der Intenisvbettengrenze.

Hinter dieser Behauptung liegen mehrere Annahmen: Erstens, das Verhalten der Menschen ändert sich nicht gegenüber dem Verhalten von August bis zur Pressekonferenz (vorher war die Wachstumsrate geringer). Zweitens, die Teststrategie bleibt unverändert und die Anzahl der Tests steigt analog zu den vergangenen Wochen. Drittens, das Contract-Tracing und das Infektionsketten-Unterbrechen wird nicht besser. Viertens, das Wachstum ist unbeschränkt exponentiell. Fünftens, die medizinische Betreuung von Covid-19-Erkrankten macht keine Fortschritte mehr.

Viele Annahmen können die Leserinnen und Leser selbst reflektieren. Als Mathematikerin möchte ich nur soweit aufklären, als dass die epidemiologische Ausbreitung einem beschränkten (!) exponentiellen Wachstum folgt, weil einerseits die Bevölkerung nur endlich groß ist und zweitens Genesene (in überschaubarem Zeitraum) nicht mehr angesteckt werden können. Die typische Modellierung, die also angewendet wird, sind sogenannte SIR-Modelle (Susceptible-Infected-Recovered), von denen es wunderbare leicht verständliche Simulationen im Internet gibt.

Im Detail bedeutet das, dass folgende Parameter entscheidend für die Simulation sind: die Ansteckungsrate als Kombination von Anzahl der Kontakte und Wahrscheinlichkeit der Übertragung dabei, die Hospitalisierungs- und Sterberate, die Genesungszeit und - was leider oft nicht besprochen wird - die Grundgesamtheit der Anzusteckenden (Susceptible), Infizierten (Infected) und Genesenen/Verstorbenen (Recovered). Das Verhältnis dieser drei Populationsgruppen ist am Beginn der Pandemie anders als während des Verlaufes, und damit ausschlaggebend für die weitere Entwicklung.

Die Simulationen müssen mit all ihren Unsicherheiten der Parameter verstanden werden, um Handlungsempfehlungen auszusprechen und auch entsprechend im Laufe der Zeit anzupassen. Jeder Erkenntnisgewinn, der zur Bestimmung der Parameter führt, kann aktiv durch Forschung gewonnen werden und in die Simulationen eingebaut werden.

»Die Hoffnung, dass ein Impfstoff die Erlösung bringt, ist aus mehreren Gründen sehr vage.«

Was in forschenden und entwickelnden Unternehmen als grundlegender Prozess verstanden wird, kann auch in der Unternehmung Pandemiebekämpfung eingesetzt werden. In der medizinischen F&E werden Investitionen bzw. zusätzliche Kosten so gesteuert, dass am Ende das beste Ergebnis für die Behandlung von Patientinnen und Patienten erzielt werden kann. Selbstverständlich unter Berücksichtigung von Risken und wirtschaftlicher Durchführbarkeit, die mit jedem Erkenntnisgewinn angepasst werden.

Ein Beispiel: Im Wiener Unternehmen AOP Orphan Pharmaceuticals, das sich mit seltenen Krankheiten beschäftigt und bei dem ich beschäftigt bin, wird in Zeithorizonten von 5 bis 20 Jahren geplant. Eine langfristige Denkweise, die über mehrere Monate oder sogar Jahre geht, braucht es auch bei der Pandemiebekämpfung. Nur so entsteht eine langfristige Strategie, die lebbar ist. Die Hoffnung, dass ein Impfstoff die Erlösung bringt, ist aus mehreren Gründen sehr vage: Wer sagt, dass ein Impfstoff die Ansteckungsrate verringert? Wie muss die Verteilung- und Durchimpfungsrate aussehen, damit es eine Auswirkung hat? Wie lange dauert so ein „Durchimpfungsprozess“?

Der Lockdown und strenge Maßnahmen sind sehr teure Instrumente, sie kosten kurz- und langfristig Lebensqualität, physische und psychische Gesundheit (abgesehen von Covis-19), Bildung und Fortschritt, und es entstehen finanzielle Kosten für Private, Unternehmen, Organisationen, Forschung, und den Staat.

Es ist eine schwierige Entscheidung, die Zeitpunkte und Ausmaße von politischen Instrumenten zu bestimmen, weil der Ausblick in die Zukunft immer mit Unsicherheit behaftet ist. Umso wichtiger ist es, die zugrundeliegenden Annahmen transparent darzustellen, immer wieder zu überarbeiten und Erkenntnisgewinne zu fördern.

Dr. Johanna Grames ist Mathematikerin und für Wirtschaftlichkeitsberechnungen des österreichischen Forschungsunternehmens AOP Orphan Pharmaceuticals verantwortlich.

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