Das Judentum hat in seiner 4000-jährigen Geschichte mehrere Katastrophen überlebt: das babylonische Exil im 6. vorchristlichen Jahrhundert, die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus und schließlich die Ermordung von zumindest sechs Millionen Menschen. Aus jeder Katastrophe ging Israel gestärkt hervor. Die Frage ist: Was ist das für ein Volk?

YEHUDA BAUER: Wenn eine Zivilisation auf einer Entwicklung beruht, die nicht linear, sondern voller Widersprüche verläuft, dann ist dies möglich. Tatsächlich leben Juden seit dem babylonischen Exil weiterhin in der alten Heimat und zugleich auch im Exil – da haben Sie diese Widersprüche.

Diese bewegte Geschichte könnte vermuten lassen: Die Juden sind ein „auserwähltes Volk“. Sind sie das tatsächlich?

Natürlich nicht. Das ist eine dumme Erfindung. Schauen Sie genau, dann werden Sie entdecken: die Auserwähltheit gibt es bei verschiedenen Völkern. Etwa bei den Polen, die sich als „Christus der Völker“ sehen, der für andere leidet. Und die Engländer sind ohnedies davon überzeugt, dass sie die Auserwählten dieser Welt sind.

Was sind die Juden? Ein Volk, eine Religion, eine Schicksalsgemeinschaft?

Es ist mehr als nur eine Schicksalsgemeinschaft, es ist ein Volk, eine Ethnie. Ein Volk, das eine Religion hat, die auch widersprüchlich ist, denn es gibt viele Arten des religiösen Judentums. Zudem waren auch nicht immer alle Juden religiös.

Was hat dann ein Jude aus Nowosibirsk mit einem aus Buenos Aires und einem deutschen „Jecken“ gemeinsam?

Das hat sich Stalin in seinem berühmten Artikel über die Nationalität auch gefragt. Die Antwort ist einfach. Nämlich, dass sich in einem zerstreuten Volk Unterschiede entwickeln. Aber es sind gewisse Gemeinsamkeiten da: die Kultur, aus der sie alle stammen. Diese Kultur hat sich trotz und wegen der Widersprüche entwickelt. Ich habe immer gesagt: Wer das Judentum vernichten will, wird versuchen, es zu vereinen. So würde die Weiterentwicklung der Kultur gestoppt werden. Schauen Sie, wir sind ein sehr kleines Volk.

Diese Widersprüchlichkeit findet sich auch in den religiösen Schriften der Juden. Sie haben keinen Dogmatismus, sondern auf eine einzige Frage zahlreiche Antworten. Wozu?

Auch diese Widersprüchlichkeit haben die Juden geschaffen, damit man gleich eine alternative Antwort parat hat, wenn sich die Realität ändert.

Sind Juden eigentlich intelligenter als Nicht-Juden?

(Lacht laut auf): Nein, das sind sie nicht. Da sie in den jeweiligen Gesellschaften aber eine Mittelstandsposition hatten, war ein Streben zu einer intellektuellen Entwicklung da. So gab es bei den Juden nie einen Analphabetismus. Auch bei den Frauen nicht, denn auch sie mussten zum Beten lesen können. Also musste man auch sie irgendwie bilden.

Seit wann kannte das Judentum die Schulpflicht?

Eine solche gab es nicht – lesen und schreiben zu lernen, war eine Tradition, das war ganz natürlich. Bei den Christen brauchte man das nicht, denn der Priester las vor und man gab vorformulierte Kurzantworten. Wir sind ein Volk der Texte – ohne diese Texte existiert das Judentum einfach nicht. Und diese Texte sind auch widersprüchlich. Es ist für Außenstehende oft schwer begreiflich: Aber einer der ganz großen Talmud-Gelehrten war ein Atheist.

Die Kinder der Christen mussten also auf dem Bauernhof arbeiten, während jene der Juden in den Cheder (Vorschule) kamen?

Dieser Bildungsvorsprung hat den Neid der Christen geweckt, die viel länger gebraucht haben, um sich an die Moderne anzupassen. Selbst die christlichen Herrscher in Mitteleuropa brauchten keine großen Gelehrten zu sein. Ein Handwerker hingegen musste schon ganz gut wissen, was er tut. Er musste einkaufen, produzieren, verkaufen – dazu brauchte man eine Entwicklung des Wissens. Die Intelligenz von Juden und Nicht-Juden ist, wenn man die Forschungsergebnisse betrachtet, ungefähr dieselbe. Aber das Wissen hat sich ganz unterschiedlich entwickelt.

Ist dieser „Neid“ der Ursprung des Judenhasses?

Das ist einer der Gründe dafür, wobei sich der Judenhass schon vor dem Christentum entwickelt hat. Der Grund: Die Juden haben andere Begriffe als ihre Umwelt entwickelt. Aus deren Verständnis heraus war es unmöglich, einen König als Gott anzubeten, wie dies die alten Römer gemacht haben. Zurzeit haben wir überall in der Welt – außer in den polytheistischen Staaten China, Indien, Japan – eine sehr problematische Zunahme des Judenhasses. Auf der anderen Seite haben wir mit der katholischen Kirche heute eine Verbündete, die wir vor 60 Jahren noch nicht hatten. Heute sind es aktive Katholiken, die gegen den Judenhass auftreten. Hätte man das vor 100 Jahren prophezeit, man wäre damals direkt in eine Heilanstalt geschickt worden.

Warum ist das so?

Weil sich durch die Shoah der Katholizismus geändert hat. Vor allem gilt es, die Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. zu nennen. Auch bei den Protestanten hat sich teilweise eine Trendumkehr gezeigt.

War die Shoah einmalig? Oder ist sie mit den Massakern der Roten Khmer in Kambodscha oder den Massakern in Ruanda zu vergleichen?

Ich habe schon sehr oft gegen das Argument der Einzigartigkeit Stellung bezogen. In diesem Punkt stehe ich in klarem Gegensatz zu den vielen großen Historikern. Die Einzigartigkeit stimmt einfach nicht. Wenn die Shoah einzigartig gewesen wäre, dann könnte man sie als schrecklich einstufen und dann vergessen. Aber sie könnte sich nie mehr wiederholen, weil sie ja einmalig war. Einmaligkeit wäre also eine Form, die Shoah zu vergessen – sie ist aber die extreme Form einer allgemeinen Krankheit, die da ist: die Vernichtung von Menschengruppen durch andere Menschengruppen. Und genau das geschieht seit Beginn der Menschheit. Die Gründe dafür sind meist wirtschaftliche oder ideologische.

Was unterscheidet nun die Shoah von anderen Genoziden? Oder anders gefragt: Gibt es Alleinstellungsmerkmale, die nur in der Shoah zu finden sind?

Die antipragmatische Form der Shoah. In allen anderen Genoziden war die Ursache immer pragmatisch: Man wollte Land oder auch die Herrschaft über andere Menschen. Bei der Shoah gibt es aber keine pragmatischen Gründe. Ich gehe so weit zu sagen: Wenn die Nazis keine Antisemiten gewesen wären, dann wären die österreichischen und deutschen Juden Nazis gewesen. Denn sie waren doch patriotische Österreicher und Deutsche. Pragmatisch war die Judenvernichtung nicht, denn die NS-Führung hätte mit einem Sinn für Pragmatismus die Wiener Juden doch nutzen können, ohne sie zu ermorden.

Eine in Österreich häufig gestellte Frage lautet: Wann werden die Juden endlich aufhören, von der Shoah zu reden?

Niemals. Ein gesellschaftliches Trauma kann man nämlich nicht vernichten. Man kann es überwinden, aber es bleibt immer noch da. Das kann man auch bei anderen Völkern nachweisen, die ähnliche Traumata erleben mussten: die Tutsi, die Roma, die Armenier. Von den Juden wurde ein Drittel des Volkes ermordet – das ist doch Grund genug, dass sich das Trauma über viele Generationen weiterentwickelt. Im Christentum wird heute noch – und sehr aktiv – über das Trauma eines Menschen berichtet. Soll man sagen, dass dieses Trauma verschwinden soll? Solange das Christentum existiert, wird es bleiben. Und bei der Shoah ist es genau dasselbe.